Nikolaus zwischen Illusion und Erkenntnis – Tag 6

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Tag 6

In diesem Advent geht es auf meinem Blog um das Thema Ankommen. Mit Ankommen gehen Erkenntnis, neues Wissen und neue Erfahrungen einher. Heute teile ich eine Erinnerung aus meiner Kindheit, die zeigt, dass Erkenntnis nicht immer glücklicher macht …

Vielleicht war es 1972 oder 1973. Der Nikolaus fiel auf einen Wochentag. Ich war 5 oder 6 Jahre alt. Der späte Nachmittag und "Feierabend" sah damals ungefähr so aus: Nach dem Spielen mit anderen Kindern hockte ich gerne ab 5:00 für die "Kinderstunde" vorm Fernseher. Zwischen 18:00 – 19:00 gab es Abendbrot und irgendwann kurz vor den Landesnachrichten im Fernsehen, also 15 Minuten vor der Tagesschau, kam mein Vater nach Hause. Für mich war es dann Zeit, ins Bett zu gehen. Er pendelte damals täglich mit dem Auto von unserem Dorf ca. 60 km nach Bonn zur Arbeit.

Am Nikolaustag war natürlich alles anders, schon morgens beim Aufstehen: da standen meine Winterstiefel prall gefüllt mit Schokolade, ersten Weihnachtsplätzchen, Spekulatius, Wall- und Haselnüssen und Mandarinen vor meiner Schlafzimmer Tür. Der Frühstückstisch war geschmückt und in unserem Dorf backten die Bäcker süße, gezuckerte Brezel. Wenn nicht schon einer meiner Geschwister so eine Brezel zum Frühstück mitgebracht hatte, so gab es die Brezel spätestens im Kindergarten oder in der Schule. Mein Vater war früh morgens meist schon unterwegs.

So auch an diesem Nikolaustag Anfang der 70er Jahre. Damals glaubte ich noch an den Nikolaus und meine Geschwister, die mir einige Jahre voraus hatten, trugen in liebenswerter Weise dazu bei, meinen Glauben zu hegen und zu pflegen. Die Spannung stieg, als ich am Nachmittag zu Hause war und alle meinten, ich müsste mir was anderes anziehen, denn wenn es dunkel wird, dann würde der Nikolaus kommen!

Ich sehe mich auf dem Schoß meiner Mutter sitzend in unserem Wohnzimmer.  Da ging dann tatsächlich irgendwann die Tür auf und der wahrhaftige Nikolaus stand da vor mir – nein, nicht im rot-weißen Kostüm. Er war in der Tradition der christlichen Bischofstracht mit Mitra und Bischofsstab ausgestattet gewesen. Einen großen Sack hatte er dabei gehabt, in dem für uns alle eine Kleinigkeit steckte, für meine Geschwister, für meine Mutter und für mich. Die Erinnerung an diese Szenen sind sehr bruchstückhaft - es heißt ja, dass man bei Kindheitserinnerungen oftmals gar nicht unterscheiden kann, ob es einem später von anderen erzählt wurde und man es sich vielmehr vor seinem inneren Auge vorgestellt haben könnte, als dass es tatsächlich geschehen ist. 

An einen Moment an diesem Abend erinnere ich mich jedoch ganz, ganz deutlich: Der Nikolaus hatte gerade unser Wohnzimmer und das Haus verlassen. Da ertönten die vertrauen Geräusche von der Haustür und im Treppenhaus, die mein Vater mit der letzten Energie des Tages machte, wenn er von der Arbeit zurückkehrte. Ich saß noch immer auf dem Schoß meiner Mutter, als sich die Wohnzimmer Tür öffnete, mein Vater eintrat, und ich ihm halb bedauernd, halb vorwurfsvoll entgegen rief: "Papa, jetzt hast Du den Nikolaus verpasst!" Das kam so aus vollem Herzen und hat sich irgendwie tief in mein Gedächtnis eingegraben …. meine Geschwister und meine Mutter fielen in das Wehgeschrei mit ein, wir zeigten meinem Vater, was der Nikolaus für uns mitgebracht hatte und mein Vater zeigte sich aufs höchste interessiert, enttäuscht und belustigt zugleich. Dann setzten wir uns alle an den Abendbrot-Tisch.

Was ich hingegen nicht mehr weiß, ist der Moment, wie es dazu gekommen sein könnte, dass ich nicht mehr an den Nikolaus glaubte. Wird wohl 1-2 Jahre nach diesem Abend gewesen sein. 

Es ist gut zu wissen, dass die schönen Momente im Gedächtnis eher überdauern, als die Momente wahrer Erkenntnis und Enttäuschungen. Es war diese Intensität von Familie, Beisammensein, gemütlichen Winterabenden und Belustigung, die diesen schönen Moment unsterblich gemacht haben. Vielleicht war es auch die tiefe Zufriedenheit all derjenigen, denen es an diesem Nachmittag gelungen war, mir als das Nesthäkchen eine schöne Illusion zu bereiten. Insbesondere mein Vater, der nur schmunzelte, als ich so aufgebracht war, dass er den Nikolaus nur um wenige Sekunden verpasst hatte. Verstohlen hat er sich dann vielleicht ein loses Barthaar aus dem Gesicht gewischt, das von dem künstlichen weißen Rauschebart hängen geblieben war ...