Tag 3
In meinem bisherigen Berufsleben waren die letzten Wochen vor Weihnachten eine sehr, sehr anstrengende Periode im Jahr. Nix mit Besinnlichkeit. Besonders schlimm war es während meiner Lehrjahre als Buchhändlerin: der Buchladen befand sich auf einer besonders geschäftigen Luxus-Einkaufsstraße in Düsseldorf. Alle Shopping-Touristen aus dem Bergischen Land, der Niederrhein-Gegend, dem Westerwald und ganz besonders viele Holländer überschwemmten buchstäblich den Weihnachtsmarkt in der Düsseldorfer Altstadt und bummelten zuvor über die Königsallee, um etwas von dem Prunk und dem besonderen Luxus-Feeling einzuatmen, den dieser Boulevard in Deutschland so einzigartig macht. Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere Extraschichten an den langen Samstagen im Weihnachtsgeschäft: die Läden und Straßen waren vollgestopft von Menschen in Lodenmänteln, die hektisch an den Verkäufer*innen zupften und mit Ungeduld in den langen Kassenschlangen ausharrten. Wenn ich in der Mittagspause den Laden verließ, hielt ich den Kopf möglichst gesenkt, eingemummelt in Mütze und Handschuhe, um so unversehrt wie möglich durch die drängelnden Menschenmassen durchzukommen. Ich werde nie den Moment an einem Adventssamstag 1987 auf der Königsallee vergessen, wo plötzlich ganz nahe neben mir im Getümmel eine Frau - offensichtlich auch eine Verkäuferin aus einem der Luxusläden in der Nachbarschaft - ganz plötzlich im Laufen stehen blieb, heftig mit dem Bein auf dem Boden aufstampfte - und über alle Köpfe hinweg hysterisch ausrief: "Mein Gott, sind hier nur noch Holländer unterwegs"?. Dieser irrationale Wutausbruch war nur die Konsequenz aus diesem elektrisierten angespannten Heuschrecken-Gewimmel von eifrigen Weihnachtsshoppern und ihrem Gebrabbel, wenn sie in Reisegruppen und mit der ganzen Familie durch die Straßen drängten und von den Verkäufer*innen Höchstleistungen abforderten. Eigentlich eine witzige Erinnerung, und mir hat der Verkauf im Buchhandel auch immer Spaß gemacht - und nichts' für ungut, ich habe auch nichts gegen Holländer - aber ich habe auch nicht vergessen, dass ich nach den drei Weihnachtsgeschäften während meiner Lehrzeit an Weihnachten zu Hause mit meiner Familie regelmäßig mit einem heftigen grippalen Infekt zusammengebrochen bin. Mit den Jahren lernte ich, den Druck im Weihnachtsgeschäft besser auszuhalten, und Weihnachten zwar müde, aber gesund mit meinen Liebsten zu verbringen.
Eine andere Begebenheit voller absurder Ereignisse ist mir aus meiner Zeit als Mediamanager in einem großen Konzern in Erinnerung. Es war vor vielen Jahren, ein Vormittag in Katerstimmung nach einer intensiven Betriebsweihnachtsfeier. Nur noch wenige Tage verblieben, um alle Rechnungen und Auszahlungen vor dem Jahresabschluss zu verbuchen. Ganz viel war im Umbruch in diesem ausgehenden Jahr gewesen, und jetzt sehnten sich alle nur noch danach, in die Weihnachtsferien zu kommen. Auch mein Chef, mit dem ich an dem Vormittag noch mein Feedbackgespräch für die Erreichung meiner Jahresziele gehabt hatte. Eigentlich war das Gespräch ganz aufgeräumt verlaufen, wir hatten aber beide nicht viel Zeit. Mit dem Zeitdruck im Nacken hatte ich dem Gespräch nicht so achtsam gefolgt, wie es notwendig gewesen wäre und dabei ungewollt eine andere Abteilung in ein schlechteres Licht gerückt. Der zuständige Abteilungsleiter war gleich im Anschluss im Büro meines Chefs. Dann gab mein Chef noch eilige Zahlungsfreigaben im System frei und machte sich auf zu einem Geschäftstermin.
Später am Vormittag rollte das Gewitter an: ein wutschnaubender Abteilungsleiter stand vor mir - zu Recht - und ließ sich darüber aus, wie ich ihm das Ergebnis vermasselt hätte. Währenddessen häuften sich die Anrufe aus der Buchhaltung, endlich alle Rechnungen und Zahlungen zu verbuchen. Dafür hatte ich einen zuverlässigen Praktikanten in meinem Büro sitzen, der das sorgfältig zu erledigen wusste. Als ich noch ganz benommen und betroffen von der Auseinandersetzung mit dem Kollegen wieder an meinen Arbeitsplatz zurück kam, stöhnte mein Praktikant entsetzt auf: Jemand aus der Buchhaltung hatte einen Tag zuvor eine Rechnung zur Zahlung angewiesen, und dabei gleich 3 Nullen hinzugefügt - 6-7-stellige Beträge waren in meiner Abteilung nicht unüblich, daher hatte niemand im Prozess gezuckt und alle hatten unter Zeitdruck effizient und schnell alles durch gewunken. Ein zu hoher Betrag für den Zahlungsausgang konnte für das Cash-Flow-Ergebnis so kurz vor Jahresabschluss verheerende Konsequenzen haben. Nur der Klick des Chefs konnte nach den neuen Freigaberegeln diese Buchung rückgängig machen - doch der war stundenlang nicht erreichbar, weil im Flieger zu einem Termin. Während also mein Adrenalin schon den kritischen Stress-Schwellenwert erreicht hatte - ging die Serie kleiner Ereignisse mit großer Krisenwirkung weiter: Ich hatte den Kundenberater unseres Dienstleisters am Telefon, ein äußerst sanftmütiger, allzeit zuversichtlicher Zeitgenosse, mit dem ich in dem abgelaufenen Jahr unglaubliche Veränderungsprozesse gestemmt hatte. Und die Herausforderungen gingen weiter, wir hatten immer noch hohen Druck auf dem Kessel für weitere disruptive Maßnahmen mit hohem Zeitdruck zum bevorstehenden Jahresanfang. Seine Stimme war in diesem Gespräch aber nicht einfach sanftmütig - sie war leise vor Erschöpfung. Und dann sprach er einen Satz aus, den man in so einer angespannten Situation nun gar nicht gerne hören mag: "Christiane, ich kann nicht mehr - wir schaffen das nicht". Nun war ich ja noch von meinem Adrenalin-Schub aufgeputscht - ich sehe mich am Schreibtisch sitzen - mir gegenüber sitzt mein Praktikant und führte ein Telefonat nach dem anderen, um diese blöde falsche Zahlungsbuchung rückgängig zu machen. Ich hielt den Hörer in der Hand und versuchte zu realisieren, was mir mein Kundenberater gerade zu verstehen gab und ich muss dabei ziemlich dumm geguckt haben. Genau in diesem Moment kommt eine Mitarbeiterin aus meinem Team herein, die kurz zuvor zu einem Termin mit just der Abteilung aufgebrochen war, der ich ungewollt einen Imageschaden in ihren Nikolaus-Stiefel gelegt hatte. Meine Mitarbeiterin stand mit großen tränengefüllten Augen vor mir. Ich wusste sofort, was passiert war - der Abteilungsleiter hatte seinen Frust an meiner Mitarbeiterin ausgelassen. Ich hielt immer noch den Hörer in der Hand und am anderen Ende wartete mein Kundenberater darauf, dass ich irgendwas zur Antwort gab. Um es abzukürzen: Die Zahlung konnte natürlich doch noch gestoppt werden. Mit meiner Agentur haben wir nach Weihnachten alles gewuppt, was wir uns vorgenommen hatten. Viel wichtiger waren aber die Gespräche, die ich mit allen Beteiligten in dieser Krisen-Situation führte, und welche Schlüsse wir daraus für unsere zukünftige Zusammenarbeit gezogen haben.
Entscheidend war der Moment, den ich noch heute vor meinem inneren Auge sehe, als ich den Hörer noch in der Hand hielt - die Krise hatte ihren Klimaxpunkt für diesen Moment, ja eigentlich für das ganze Jahr erreicht. Ich spürte sofort und intuitiv, jetzt kommt es nicht mehr darauf an, all' die Probleme zu fixen, die sich da gerade aufgestaut hatten. Es ging in diesem Moment nicht mehr um "richtig" oder "falsch", um "zügig", "effizient" und "produktiv". Es ging darum, in mir und im Anschluss daran im Gespräch mit allen Beteiligten den inneren Fokus neu auszurichten. Dankbarkeit, Empathie und Mitgefühl, Demut und Klarheit in der Kommunikation entstehen zu lassen um diesen völlig verfahrenen Knoten aufzuknüpfen. Für den Rest des Tages zählte nicht mehr, weitere Aufgaben so schnell und vollständig wie möglich abzuarbeiten. Wenige Tage später konnten wir alle über diesen absurden Moment lachen, es hatte sich alles aufgelöst - nicht ohne geduldige Gespräche mit allen Beteiligten (ja, auch mit meinem Chef, auch mit dem Abteilungsleiter, auch mit dem Kundenberater - wir alle fanden Einsicht darin, was jeder von uns dazu beigetragen hatte, dass wir uns in diese ausweglose Situation hinein manövriert hatten) zu führen.
Veränderungen und Innovationen lassen sich nicht alleine mit Effizienz und mit einem ausgeklügelten Projektplan bewältigen. Wenn wir danach streben, perfekt, produktiv unter Zeitdruck alles kontrollieren zu wollen, sind wir anfällig für Erschütterungen und Krisen - und laufen Gefahr, von dem überhitzten Tempo zuvor getroffener Entscheidungen so ausgelaugt und erschöpft zu sein, dass wir in der Krise noch mehr Fehler machen. Fehler und Krisen-Situationen passieren - sie werden nicht gelöst, indem wir sie dramatisieren, oder indem wir sie verleugnen oder klein reden, und schon gar nicht, in dem wir alles laufen lassen und nichts tun. Eine Haltung für die gemeinsame Intention, eine Haltung der Offenheit, mit Demut und Mitgefühl stärkt den Fokus im inneren und im Team und sorgt für das Rückgrat, Widersprüche auszuhalten, Fehler in Chancen umzuwandeln und Zuversicht für neue Herausforderungen zu stärken. Mein wichtigstes Führungsziel ist nicht, die Effizienz in meinem Bereich zu steigern, sondern Resilienz zu entwickeln. Das macht uns Krisenfest - und führt zu besseren Ergebnissen, insbesondere in dynamischen Zeiten.