Tag 13
Eigentlich bin ich ein Frühaufsteher. Ich genieße es, den Tag früh zu starten, in aller Ruhe. In den Morgenstunden kriege ich besonders viel gelesen - manchmal gleich zwei Bücher parallel - natürlich hintereinander.
Seit der Dezember angebrochen ist, spielt mir der Biorhythmus meines Körpers, der mich eigentlich zuverlässig morgens zur selben Zeit aufwachen lässt, gegen den Strich. Ich merke, dass ich mehr Schlaf als üblich brauche. Vielleicht ist das die innerliche Erschöpfung, die uns alle in der Pandemie früher oder später erfasst - ich hatte das schon in den Tagen nach Ostern. Oder es ist schlichtweg die Nähe zur Wintersonnenwende, die meinen Körper daran erinnert, dass wir sehr gerne auch einen Winterschlaf halten.
Ich verbringe den Morgen nach dem Aufwachen in einer guten Mischung aus Mustern und Ritualen. Muster beschreiben die Verhaltensweisen, die ich im Autopilot-Modus ausübe - Wasser aufsetzen für meinen Tee, Müsli zubereiten, der erste Gang ins Bad etc.
Rituale sind Gewohnheiten und Handlungen, die ich regelmäßig, und im vollen Bewusstsein, mit einer Bestimmung ausübe: Lesen, Meditieren, mein Frühstück mit Achtsamkeit genießen, Gymnastik.
Manchmal passiert es mir, dass ich mich dabei erwische, dass ich mir am Morgen die Zähne zweimal geputzt habe. Das zeigt mir, dass ich im Autopilot-Modus unterwegs war, und nicht mitbekomme, was ich gerade mache - da fehlt mir die Achtsamkeit. Ich weiß hingegen jedes Mal ganz genau, wie ich mich bei der Ausübung meiner Rituale gefühlt habe, was ich gelernt habe oder was ich erfahren habe. Dazu gehören auch Muskelschmerzen bei der Gymnastik, oder wie gut oder wie wenig konzentriert ich bei meiner Meditation war.
Rituale sind eigentlich eine Gewohnheit, die im Kollektiv entsteht.
"Rituale sind institutionelle Muster, in denen kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Handlungspraxen inszeniert werden (…)" (Quelle)
Ich muss Rituale nicht zwingend in einer Gruppe praktizieren, um das mir von Meistern und Experten vermittelte Praxis-Wissen zu verinnerlichen - das kann ich sehr gut auch alleine.
Wenn ich mich dann an meinen Schreibtisch setze - oder mit anderen Vorhaben in die Aktivitäten des Tages starte, fühle ich, dass ich mich verändere - insbesondere nach der Ausübung der Meditation (und eigentlich auch der Gymnastik, wenn ich das denn auch durchziehe):
Rituale "(…) enthalten Momente der Reproduktion, der Konstruktion, der Innovation" (Quelle)
Das macht für mich den entscheidenden Unterschied zwischen bewusstem Handeln und unbewussten Mustern aus: Wenn ich überhaupt keine Erinnerung daran habe, was ich vom Aufwachen bis zum Weg an den Schreibtisch gemacht habe - egal ob Frühstück zubereiten und einnehmen, oder die Autofahrt zum Arbeitsplatz - dann bin ich im Autopilot-Zustand unterwegs, und bekomme nix von meiner Umgebung - viel schlimmer aber noch bin ich von mir selbst entkoppelt.
Wenn ich hingegen bewusst Ritualen einbaue, dann spüre ich meine innere Kraftquelle (auch wenn meine körperlichen Kräfte noch im Ruhemodus sind). Wenn ich meine Bequemlichkeit überwinde, und das regelmäßig über mehrere Wochen schaffe, einzuhalten - dann mache ich die Erfahrung, dass das Gefühl der Überwindung verschwindet - und mein Körper vielmehr etwas vermisst, wenn ich das Ritual dann doch mal unterbreche. Sowohl Muster, als auch Rituale bauen auf Gewohnheiten - und wir Menschen lieben unsere Gewohnheiten. Gewohnheiten sind wichtig - schöpferisch wertvoll und essentiell für meine Verbundenheit mit mir selber werden sie, wenn ich sie als Rituale mit Achtsamkeit ausübe, und nicht stumpf meine Verhaltensmuster abspule. Wie wichtig es ist, sich der Bedeutung seiner Gewohnheiten bewusst zu sein, wird insbesondere in der aktuellen Pandemie ersichtlich: Viele Gewohnheiten und Muster, mit denen wir Menschen instinktiv Bedürfnisse befriedigen und unseren Alltag bewältigen - werden komplett auf den Kopf gestellt!
Die neuen Regeln, die uns Experten und Instanzen vermitteln, um die Pandemie zu bekämpfen - sie kosten uns Überwindung und wirbeln unseren gewohnten Alltag ganz schön heftig durcheinander. Aber sie sind auch eine Chance, den inneren Autopiloten ab und zu auszuschalten und zu erleben, wie wir uns mit Bewusstsein damit auseinandersetzen, wann und warum wir Gewohnheiten ändern - und was aus einem wacheren Bewusstsein mit Ritualen in der Verbundenheit mit uns selbst kreativ neu entstehen kann.