5. Tag
Gestern habe ich in einem podcast einem Interview mit einem Bestatter zugehört - es ging darum, wie die aktuelle Pandemie zu einer anderen Auseinandersetzung mit dem Tod führt. Auch für Bestattungen gibt es in Corona-Zeit erhebliche, und teilweise wirklich absurde Auflagen. So erzählte der Bestatter, dass er mitunter einfach vergisst, wie man zählt, wenn die Anzahl der Teilnehmer an einer Trauerfeier nicht den Vorgaben entspricht. In Berlin gibt es wohl sogar die Regelung, dass für kirchliche Trauungen 30 Teilnehmer zugelassen sind, während für nicht-religiöse maximal 10 Teilnehmer erlaubt sind. Der Bestatter hatte sich irgendwann mal für 35 Dollar in den USA zum Priester weihen lassen. Er geht einen anderen Weg, und hilft damit Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden
Ist das richtig? Ist das verantwortlich? Wer fühlt sich kompetent, das beurteilen zu können?
Gestern hatte ich auch ein Telefonat mit einer Freundin. Sie ist Grundschullehrerin und unterrichtet in den ersten Schuljahren. Wir sprachen über viele verschiedene Situationen, im beruflichen und im privaten Umfeld, wo wir immer wieder vor der Frage stehen: ist das jetzt richtig - entspricht das jetzt den Vorschriften, oder bringe ich jetzt jemand ungewollt in Gefahr? Darf der andere das, was er da gerade tut? Und wir stellen fest: sich das immer wieder zu fragen, ist unglaublich anstrengend. 6-jährige Kinder verstehen das nicht! Ich habe mich nach Ostern, als die ersten Lockdown-Lockerungen in Kraft traten, sehr, sehr müde gefühlt und war wochenlang zu nichts zu gebrauchen. Irgendwann war mir klar, dass mein Gehirn mich so erschöpft hat, weil ich in so unendlich vielen Situationen neu entscheiden musste: ist das jetzt richtig oder falsch?
Wir treffen in einer Stunde unglaublich viele Entscheidungen, mit jeder Bewegung, mit jedem Schritt, den wir tun. Würden wir dann jedes mal bewerten, ob etwas richtig oder falsch ist, dann wäre unser Gehirn ganz schnell ziemlich überfordert. So, wie beim Autofahren: wenn wir alle Reize gleichzeitig wahrnehmen würden, könnten wir uns nicht auf das Fahren fokussieren, weil wir ständig abgelenkt wären. Wenn wir in der Fahrschule die Praxis üben, sitzt der Fahrlehrer neben uns, und zeigt uns, wenn wir beim fahren etwas "falsch" machen - also etwas machen, dass uns und alle Beteiligten in Straßenverkehr gefährdet. Aber der Fahrlehrer sitzt nicht unser ganzes Leben neben uns, und das Gelernte geht irgendwann in unser Unterbewusstsein über und mit steigender Fahrpraxis werden wir sicherer.
Nach dieser Sicherheit streben wir, um unseren Alltag bewältigen zu können. Diese Sicherheit erwächst aus unserer eigenen Praxis, aus unserer Erfahrung, was sich gut anfühlt, oder womit wir ggfls. auf die Nase fallen - nicht aus dem Urteil eines inneren Kritikers, der wie ein Fahrlehrer permanent neben uns sitzt und uns sagt, was wir jetzt zu tun oder zu lassen haben. Und zu dieser Praxis gehört es auch, schlechte Erfahrungen zu machen. Nicht die schlechte Erfahrung macht uns unsicher, sondern unsere Angst, dass wir oder andere uns für das falsche Verhalten und die Konsequenz daraus verurteilen. Die Bewertung von richtig oder falsch schränkt uns unglaublich ein.
Der Fahrlehrer und die Vorschriften, um die Pandemie einzudämmen, werden dadurch nicht überflüssig!
Wir wachsen, indem wir Vorschriften anwenden und verstehen, was die Konsequenzen sind, wenn wir sie anders auslegen. Wir wachsen nicht, indem wir uns permanent mit unserem inneren Kritiker auseinandersetzen und ein Urteil darüber treffen, dass es richtig oder falsch ist, dass es diese oder jene Vorschrift gibt.
Lassen wir uns in der Pandemie also nicht von all' den widersprüchlichen Vorschriften verwirren und schon gar nicht vom Urteil anderer aus der Ruhe bringen: Wie beim Autofahren haben wir auch im Alltag einen inneren Kompass, warum wir uns gerade so oder so verhalten - möglicher Weise anders, als von uns erwartet - aber im vollen Bewusstsein der Konsequenzen, die unser Verhalten nicht nur für uns, sondern für alle Beteiligten um uns herum hat.