Der magische IKEA-Moment – Tag 18

Resilienz,Transformation,Transformation und Advent

Dezember 18, 2020

Adventsblog 2020 Christiane Schicker

Tag 18

Ich bin dieses Jahr umgezogen. Da ich die letzten Jahre in einer wundervollen Wohngemeinschaft in Hamburg gelebt habe, musste ich mir einige Möbel jetzt wieder neu zulegen und aufbauen

Wir alle kennen die Bauanleitungen für Regale, Kommoden und Schränke von IKEA: Die Auflistung der Bestandteile und Werkzeuge, die der Verpackung beiliegen, die Sicherheitswarnungen für den Aufbau ohne Sofort- oder Langzeitschäden, und dann für jeden Schritt ein Bild. Es gibt keine Wörter oder Sätze - und damit auch keine groben Schnitzer von automatisierten Übersetzungsprogrammen. Alles ist verständlich - und gibt einem die Gewissheit: Da kann überhaupt nix schief gehen, das krieg' ich hin!

Ich habe die Erfahrung gemacht: bei fast jedem Möbelstück, was ich nach diesen perfekten Anweisungen aufbaue, kommt es IMMER zum IKEA-Moment - auch wenn es gar kein Möbelstück von dem blaugelben schwedischen Möbelhaus ist:

Der IKEA Moment stellt sich nicht sofort ein. Die ersten Schritte sind getan, erste Erfolgserlebnisse stellen sich ein und das Möbelstück nimmt Gestalt an. Ich rechne gar nicht mehr damit, aber dann kommt doch ein kniffliger Moment: es hängt, ist verklemmt, irgendwas ist zu groß oder zu klein. Die Schraube ist nicht zu finden. Ich drehe, ich wende, ich drücke oder ziehe, ich lockere und fixiere es erneut. Meistens muss ich mich gerade unnatürlich verrenken, in einen unbeleuchteten Winkel hinein schrauben. Der Kopf ist vorne übergebeugt, das Blut lässt die Augen anschwellen, ich sehe schon Sternchen. Als nächstes tut das Arthrose-schmerzende Knie weh, auf das ich mich gerade aufstütze und dann rutscht noch der Schraubenzieher ab und ritzt die Hand fast auf … dann kommt der Höhepunkt: "Das KANN nicht funktionieren!" "Da ist 100%ig ein Fehler in der Anleitung!" "Die haben die falschen Schrauben zugepackt" - "Die Leiste fehlt, die ist einfach vergessen worden!"… jetzt könnte die Geschichte ganz schnell zu Ende sein: Schraubenzieher in die Ecke gepfeffert, alle Einzelteile zusammengepackt und zurück ins Auto, morgen wird reklamiert!

Was mache ich? Es dauert ein paar Minuten des Fluchens und Schnaufens, bis ich realisiere: Ahhhh, das ist der IKEA Moment … der Moment ist nämlich eigentlich nicht der Moment der Krise, sondern der magische Moment, in dem ich registriere: Ich bin im Stress. Jetzt gibt es nur eines: Innehalten, durchatmen, rumdrehen und was ganz anderes machen. Und was anderes machen heißt auch wirklich: nicht an dem Aufbau weiter rumdenken, oder mit jemand sprechen: im Zweifelsfall schimpfe ich mich dann wieder in Rage und verfestige meine Meinung, dass es nicht funktionieren kann. Ich gehe dann zumeist in die Küche, setze mir Teewasser auf oder mache wir was zu Essen, lenke mich mit dem Handy oder dem Fernseher ab. Manchmal gehe ich auch raus: Einkaufen, Laufen, Fahrradfahren. Hauptsache, ich lenke meine Aufmerksamkeit von dem Stress ab.

Die Unterbrechung kann wenige Minuten dauern - aber die Magie liegt darin, was dann passiert, wenn ich mich wieder dem Vorgang zuwende: Es funzt, es rastet ein, die Schraube findet sich, das Möbelstück steht - es ist fertig!

Worin liegt eigentlich die Magie dieses Moments? Ich beantworte mir das so: Würde alles glatt gehen, und wäre alles so einfach, wie es das kleine IKEA-Strichmännchen in den Anleitungen vermittelt, dann würde ich nicht mehr darüber nachdenken - ich hätte aber auch kein Erfolgserlebnis. Aber das Gefühl, mich festzufahren, vor lauter Drang und Erwartung immer hektischer und ungeduldiger in meinen Abläufen zu werden und dann festzustellen: ich hänge, ich komme nicht weiter - und dann als nächstes die Schuld auf die anderen zu schieben und auf IKEA zu schimpfen … das sind Muster. Inne zu halten, Einatmen, Ausatmen - meine Synapsen neu verkabeln und zu verstehen: Leichtigkeit entsteht nicht, indem ich erwarte, dass es immer so einfach ist, wie es das kleine lächelnde Strichmännchen vormacht. Leichtigkeit entsteht, indem ich begreife, dass ich es kann, auch wenn und vielleicht gerade weil ich mich ab und zu verhacke und vor einem Problem stehe und dann den Prozess durchlaufe, es besser zu verstehen und meine Sinne für mein Gelingen zu schärfen.

In meinem Werkzeugregal liegen ein paar Schrauben, Leisten oder Scharniere, die übrig geblieben sind, nachdem ich mit dem Aufbau fertig war … ich muss sie bei der Anleitung übersehen haben - aber meine Kommoden stehen!