Angst wandelt sich in Demut – 3. Teil meiner Lockdown-Erfahrung 2019 – Tag 16

Reiseberichte,Resilienz,Transformation und Advent

Dezember 16, 2020

  • Adventsblog 2020 Christiane Schicker
  • Tshering und werden von einer hinduistischen Gemeinde mit dem weiß-roten Schal begrüßt, der in Assam für ethnische Integration steht, Sahipur, Assam Dezember 2019
  • Selfie mit hinduistischen Gemeindemitgliedern in Sashipur, Assam, Dezember 2019

Day 16

9.Dezember 2019, 14:00 in Guwahati, Assam, Indien – ich sitze zur Salzsäule erstarrt auf dem Rücksitz eines Taxis, das vor einer Straßensperre aus brennenden Autoreifen halt gemacht hat. Es gibt eine Ausgangssperre, weshalb keine Menschenseele auf dieser normalerweise sehr belebten Autobahn zu sehen ist, nur der Taxifahrer und ich. Und dann kommen aus dem Nichts drei finster drein blickende Männer auf uns zu. Meine Sinne sind fokussiert, ich versuche in den Augen der Männer zu erkennen, wie sie mich wahr nehmen. Ich bleibe ruhig, provoziere sie nicht, lasse aber auch niemanden aus den Augen – auch nicht meinen Fahrer, der äußerlich ruhig bleibt, aber innerlich mindestens so angespannt gewesen sein muss, wie ich. Denn auch wenn meine Anwesenheit die Männer nicht sonderlich zu interessieren schien (und mir schwebten natürlich Erinnerungen an Berichte über gewaltsame Übergriffe auf westliche Frauen in Delhi und Mumbai im Kopf herum), zum smalltalk waren sie nicht aufgelegt. Ich war überrascht, dass mein Fahrer sein Seitenfenster halb öffnete, als einer der Männer herantrat. Dieser Mann versuchte auch, die Fahrertür zu öffnen, ließ aber von weiteren Versuchen ab, als er merkte, dass das Auto verriegelt war. Die Blicke waren feindselig. Ich verstand kein Wort des kleinen Wortwechsels. Dann folgten allerdings hasserfüllte Worte in englischer Sprache, an meinen Fahrer gerichtet, die ich offensichtlich verstehen sollte: „You are a Moslem, a bloody Moslem!….“ .

Mir lief der berühmte kalte Schauer über den Rücken, aber wie der Fahrer zeigte ich keinerlei Reaktion. Stattdessen schloss er in Ruhe sein Seitenfenster, betätigte die Kupplung und fuhr im Schritttempo rechts an der Straßensperre vorbei und entfernte sich dann zügig von der uns nachblickenden kleinen Gruppe, weiter auf der immer noch leeren Fahrbahn, jetzt wieder zurück in Richtung Flughafen. Dann drehte er sich langsam nach mir um – und diese strahlend lächelnden dunklen Augen des jungen Mannes, der zuvor rassistisch bedroht worden war, haben sich tief in meine Erinnerung eingebrannt.

Ich rief erneut Tshering an, und dieses Mal bestand ich darauf, dass er solange am Telefon blieb, bis wir zum Hotel kommen würden. Doch wir hatten kein Glück, das Hotel war wegen einer Hochzeit ausgebucht. Mir sank das Herz in die Hose – wie sollte es jetzt noch möglich sein, woanders eine sichere Unterkunft zu finden? Und tatsächlich fuhr mein Fahrer noch mehrere kleinere Hotels in den Vororten zwischen dem Zentrum von Guwahati und dem Flughafen an – und überall gab es nur Kopfschütteln. Tshering war die ganze Zeit am Telefon dabei und der Fahrer erklärte ihm, dass er noch eine Möglichkeit kannte, dann wären seine Ideen aber auch erschöpft. Wir erreichten eine Hofeinfahrt – an der Straße lag eine medizinische Krankenstation mit Medikamenten-Ausgabe und weiter hinten im Hof stand ein typisch indischer 5-stöckiger Betonklotz mit freistehendem Treppenhaus. Es stellte sich heraus, dass es ein Gästehaus für Handelsreisende war, das von einer christlichen Gemeinde geführt wurde. Im Empfangsbüro warteten schon einige Reisende und ich bekam buchstäblich das letzte noch freie Zimmer zugewiesen. Ich war in Sicherheit – und mein Fahrer erhielt als Entlohnung weit mehr als die ursprünglich verhandelten 1500 Rupees und war’s glücklich … Sehr bald wurde es dunkel und am frühen Abend zog trotz der Ausgangssperre ein friedlicher Fackelzug demonstrierender Studenten am Gästehaus vorbei. Diese Demonstration war ganz offensichtlich nicht durch die rassistischen Aggressionen bestimmt, die ich am Nachmittag an der Straßensperre gespürt hatte – die Anspannung des Tages war jetzt einer trauernden, gedrückten Stimmung gewichen.

Am nächsten morgen wachte ich mit dem Sonnenaufgang und dem Gesang eines Muezzin auf. Tshering hatte das andere Hotel endlich erreicht und konnte mich für die nächsten Nächte dort einquartieren. Ich verließ aber nie das Hotelgelände, denn der Ausnahmezustand hielt weiter an. Zwei Tage später durfte Tshering aus Bhutan ausreisen und mit dem von ihm gebuchten Fahrer kehrten wir nach einer letzten Nacht in Guwahati zurück an die Grenze zu Bhutan.

Nur mühsam erschloss sich mir aus den indischen Medien, die man im Hotel empfangen konnte, das ganze Bild von den Ursachen der aktuellen politischen Spannungen. Sie gingen zunächst von mehreren Städten in Assam aus, erfassten in der selben Woche aber das ganze Land und es gab auch Unruhen in Bangladesch. Als ich Ende Dezember aus Bhutan wieder nach Delhi zurück flog, wo ich 24 Stunden Aufenthalt bis zum Rückflug nach Europa hatte, habe ich mein Hotel am internationalen Flughafen nur zum Essen in einer benachbarten Mall verlassen. Eigentlich wollte ich die Altstadt in Delhi besichtigen, aber dort gab es bis weit in den Januar hinein heftige Ausschreitungen und rassistische Angriffe auf friedliche, schon seit mehreren Generationen in Delhi lebende muslimische Zivilisten.

Auslöser war ein neues Staatsbürger-Gesetz, das an dem Tag meiner Abreise nach Indien ratifiziert worden war: Es wurde eine Amnestie für Migranten ausgestellt, die ihnen ermöglichte, ein Bleiberecht auf Lebensdauer in Indien zu erwerben. Ausgenommen waren jedoch explizit muslimische Migranten.

Wenige Tage später, nach Aufhebung der Ausgangssperre, erreichten Tshering und ich die indische Grenzstadt Sashipur in der Provinz Darranga. Von der Anspannung der letzten Tage war nichts zu spüren. Wir kamen an einem hinduistischen Tempel vorbei und blieben neugierig stehen: Es herrschte fröhliche Betriebsamkeit, offensichtlich wurde gerade eine Gebetshalle für eine große festliche Veranstaltung vorbereitet. Ein Mann kam freudestrahlend auf uns zu und lud uns beide warmherzig ein, die Tempelanlage zu besichtigen. Man bereitete sich auf ein wichtiges heiliges Fest am folgenden Tag vor, wozu mehrere 1000 Pilger aus dem Nordosten Indiens erwartet wurden. Er trug einen weißen rot gemusterten Schal, den ich in den letzten Tagen in Assam häufiger gesehen hatte – vor allem unter den Bildern demonstrierender Studenten auf friedlichen Kundgebungen. Ich fragte ihn, was dieser Schal zu bedeuten hat – und mit seinen Erklärungen erschloss sich mir so langsam das ganze Bild: Der Schal ist ein Symbol für die integrierende Vielfalt in Assam, so erklärte es mir der Mann geduldig. In keiner anderen Region leben Hinduisten, Muslime, Buddhisten und Christen so einvernehmlich miteinander, wie in Assam. Und sofort setzte sich mir vor meinem inneren Auge das Bild wie Tetris-Steine zusammen: Ich erinnerte mich an den Weckruf des Muezzin am 10. Dezember in der Nähe des christlich geführten Gästehauses. Als ich im Oktober 2014 zum ersten Mal die Strecke von Guwahati nach Sashipur entlang fuhr, standen entlang der gesamten Strecke bunt angemalte Pappmaché-Figuren, geschmückt mit Räucherkerzen, die die wichtigsten hinduistischen Gottheiten verkörperten und zum hinduistischen Neujahrsfest, dem Diwali angezündet wurden. In Darranga gab es mehrere christliche Kirchen und Schulen, die mir schon früher aufgefallen waren – und an einer Stelle ragt am Hang über den Palmen am Straßenrand eine riesige vergoldete Buddha-Statue hervor. Der Mann dieser hinduistischen Gemeinde erklärte uns freundlich und aufrichtig, dass niemand in dieser Gemeinde das neue Staatsbürger-Gesetz gut hieß.

Die Studenten und intellektuellen Demonstranten, die ich im Fernsehen und auf dem abendlichen Fackelzug in Guwahati mit diesen Schals gesehen hatte, protestierten gegen dessen Durchsetzung und berufen sich – übrigens von der regionalen Regierung Assams unterstützt – auf die demokratischen und ethischen Werte des Staatsgründers Mahatma Gandhi.

Diese Haltung teilten die Männer, die mir im Taxi an der Straßensperre begegnet waren, ganz und gar nicht. Ihnen ging der jüngste Beschluss noch nicht weit genug – und auch die Angreifer in der Altstadt Delhis, oder die vermummten Aktivisten, die im Januar 2020 das Wohnheim von studentischen Oppositionellen der nationalistischen Regierung unter Modi in Brand steckten, oder die Angreifer in Mumbai, die im Dezember 2019 mehrere Brände entzündeten – sie alle wollen die ethnische Spaltung vorantreiben.

Am Abend nach der warmherzigen Gastfreundschaft in der hinduistischen Gemeinde zeigte mir Tshering ein Video, das er über die sozialen Medien zugespielt bekommen hatte. Es war eine Szene von den Demonstrationen in der Innenstadt Guwahatis, die sich nur wenige Stunden vor meiner Landung abgespielt haben musste. Der Kameramann stand direkt hinter einem Polizisten der nationalen Staatspolizei. Über die Schulter des Polizisten hinweg erblickt man in einiger Entfernung eine Gruppe von Demonstranten, die die gesamte Straße einnehmen, sich aber ohne Aggression, ohne Hektik bewegen. Man sieht, wie der Polizist sein Gewehr ansetzt, und schießt … keine Vorwarnung. Als würde man durch das Zielrohr des Gewehres blicken, sieht man, wie zwei junge Männer, die sich gelassen, fast fröhlich am Rand der demonstrierenden Gruppe bewegen, aus dem Gang heraus unerwartet zusammenbrechen. 4 Demonstranten sind in diesem Moment tödlich getroffen worden. Der Polizist trug dieselbe nationale Uniform wie die zwei Männer, die mich wenige Stunden später am Flughafen angesprochen haben …

Mir steht kein Urteil über die Regierung eines Landes zu, in dem ich nicht aufgewachsen bin, und dessen Kultur ich nur durch einige wenige Reisen und Freundschaften mit Landsleuten kennen gelernt habe.

Ich weiß nur, dass ich noch nie in meinem Leben so eine intensive ANGST und gleichzeitig einen so tief verwurzelten MUT verspürt habe, wie in dem Moment auf der Rückbank des Taxis an der Straßensperre. Die Gastfreundschaft und liebende Güte des hinduistischen Priesters verstärken den Nachhall des Muts – und ich begriff, was Demut bedeutet: Angst auszuhalten und physisch und seelisch zu begreifen, was für ein perfider Treiber für Angst die Spaltung und Unterdrückung von Minderheiten in einer Gesellschaft ist. Und gleichzeitig seine inneren Kraftquellen zu aktivieren und sich von dieser Angst nicht provozieren zu lassen. Das alles lag in dem Blick dieser strahlenden Augen des Fahrers, als er sich erleichtert, aber auch erfüllt von Dankbarkeit und tiefer Verbundenheit nach mir umgedreht hatte.

Weitere Hintergrundinfos zu den ethnischen Spannungen in Indien: Hindus gegen Muslime

Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 dieses Reiseberichts